Gebrauchsanweisung für Moskau by Schepp Matthias
Autor:Schepp, Matthias
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Reise
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2014-12-28T16:00:00+00:00
Der Fluch der gekreuzten Hände
Welchen Aberglauben Sie ignorieren können und
welchen Sie beachten müssen
Würde Aberglaube auf Tatsachen beruhen, hätte ich in Russland schon mein blaues Wunder erlebt. Im schlimmsten Fall wäre ich schon gar nicht mehr am Leben, zumindest aber wäre ich verarmt. Denn wer in den eigenen vier Wänden fröhlich vor sich hin pfeift, dem komme, so meinen die Russen, alsbald sein Geld abhanden. Wenn ich aber gut gelaunt bin, dann pfeife ich in der Badewanne, in meinem Arbeitszimmer und im Wohnzimmer. Ich pfeife darauf, dass ich eigentlich nicht pfeifen darf.
Genauso sollten Sie es auch halten. Pfeifen Sie als Fremder einfach auf das Gros der Moskauer Aberglaubensregeln. Sie sind schließlich kein Russe. Ich also glaube nicht daran, dass es Unglück bringt, eine leere Flasche auf dem Tisch stehen zu lassen. Ich denke im Gegenteil, dass es gut ist, die ein oder andere nicht auszutrinken, zum Beispiel im Falle von Wodka. Dann lösen sich eine Reihe von Problemen gleichsam von alleine beziehungsweise sie entstehen gar nicht erst. Volle Flasche, klarer Kopf.
Wenn meine Nase juckt, fange ich deshalb nicht an, mich zu betrinken, was mir meine Bekannten sofort prophezeien, wenn ich mein Riechorgan mal reibe. Und wenn meine Ohren glühen, liegt es meist daran, dass ich aus der Winterskälte in eine dieser typischen überheizten Moskauer Wohnungen komme, und nicht daran, dass jemand gerade über mich spricht, wie meine russischen Freunde beteuern. Und obwohl meine Lippen niemals jucken, küsse ich dennoch viel. Dies kann meine Frau Marina bezeugen. Des Weiteren sind viele Russen davon überzeugt, ein Elternteil dem Tod anheim zu geben, wenn sie mit einem Schuh herumlaufen. Auch dies ist ein alter Aberglaube. Ich finde jedoch, dass die Gewohnheit, an zwei Füßen jeweils einen Schuh zu tragen, schon seit Jahrhunderten zu den Errungenschaften der menschlichen Zivilisation gehört und es generell viele gute Gründe dafür gibt, nicht mit einem Schuh herumzuspazieren. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich habe in meinen vielen Moskaujahren noch nie jemanden gesehen, der mit nur einem Schuh durch die Stadt, seine Wohnung oder über Feld und Wiesen spazierte.
Wundern Sie sich nicht, wenn Sie in Moskau mit allerlei eigenartigen Gebräuchen konfrontiert werden. Ende der Achtzigerjahre wohnte ich als Gaststudent in einer Moskauer Familie und konnte hin und wieder am frühen Morgen beobachten, wie der Herr des Hauses gleich nach dem Aufstehen am Waschbecken den Hahn aufdrehte und anfing, mit dem minutenlang laufenden Wasser zu sprechen. Sollte Ihnen Ähnliches widerfahren, ist dies kein Grund, überstürzt die Koffer zu packen. Der Mann hatte einfach nur einen schlechten Traum. Vielleicht hat er im Schlaf gesehen, dass seine Schwiegermutter, die im Sommer stets auf drei schreckliche Wochen zu Besuch kommt, bald für immer bei ihm einzieht. Vielleicht hat er geträumt, dass sein Lieblingsverein Dinamo Moskau künftig jedes Fußballspiel verliert und in die Dritte Liga absteigen muss. Damit solche Albträume nicht wahr werden, spült er den Traum nun einfach fort. Ist doch logisch, oder? Ich konnte allerdings noch nicht herausfinden, ob das Ganze auch funktioniert, wenn man sich gleichzeitig dabei wäscht. Aber das ist natürlich ein typisch deutscher Gedanke.
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